Archiv 2013
Christian Dootz - search
Christian Dootz
SEARCH
16. November 2013 bis 18. Januar 2014
Eröffnung: 15. November 2013 um 19.30 Uhr
Begrüßung: Ricus Aschemann (Atelier. Galerie für Fotografie)
Einführung: Maik Schlüter
Atelier. Galerie für Fotografie
Calenberger Str. 12
30169 Hannover
Öffnungszeiten Freitags 12.00 – 17.00 Uhr und nach Vereinbarung
Im Blindflug (Auszug)
von Maik Schlüter
Im Blindflug: Der Suchscheinwerfer eines Helikopters strahlt in die Dunkelheit, tastet sich vor, findet aber kein Objekt, das er fokussieren könnte. Die Suche läuft ins Leere. Der Helikopter kreist an einem nachtschwarzen Himmel, unter ihm die unscharfe Silhouette einer anonymen Stadt. Der Fotograf Christian Dootz simuliert in seiner Arbeit Search (2013) den nächtlichen Erkundungsflug eines Spielzeughelikopters: Er zeigt eine fiktive Konfrontation an einem künstlichen Himmel über einer Stadt aus Pappmaché. Dennoch wirkt die Szenerie real. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich um ein Modell handelt und dass der Helikopter mehrfach belichtet und damit vervielfältigt wurde. Christian Dootz nutzt die Möglichkeiten der digitalen Fotografie für eine komplexe Reflexion. Zum einen verweist er explizit auf den widersprüchlichen Wirklichkeitsbegriff der Fotografie, die immer auf der Folie der Realität ein verdichtetes, zugespitztes, abstrahiertes oder auch limitiertes Bild liefert, gleichzeitig aber mit der Behauptung einhergeht, die Wirklichkeit zur Gänze abzubilden. Zum anderen zeigt Dootz, dass das Spiel oder die Inszenierung realer als die Wirklichkeit sein kann. Denn bereinigt vom Kontext aller umgebenden Details, stillgestellt im Shot der Fotografie und als zweidimensionale Fläche präsentiert, treten Aspekte hervor, die vormals durch Ablenkung der Sinne nicht sichtbar waren (...)
Dem Fotografen geht es vor allem um die Unmöglichkeit der Perspektive: Das Kameraauge erhebt sich, blickt von oben auf eine Szene, gleichzeitig begegnen sich in luftiger Höhe vermeintlich unterschiedliche Helikopter in einer virtuellen Konfrontation. Die Fluggeräte umkreisen sich. Es hat einen kafkaesken Aspekt, dass es sich bei dem multiplizierten Helikopter um einen medialen Wiedergänger handelt, der letztlich sich selbst jagt. Die Untiefen von Zeit, Raum, Projektion und (Selbst-)Wahrnehmung fasst Christian Dootz schlüssig unter dem Begriff Expanded Photography zusammen und meint damit auch die erweiterte, verselbstständigte Wirklichkeit der Bilder.
© Maik Schlüter, 2013
Atelier.Galerie für Fotografie, Hannover. Installationsansicht: Search, 20
Kamikaze und Konzept - Nachruf für Jerry Berndt
Jerry Berndt beginnt seine Karriere als Fotograf mit einer Kamikaze-Aktion. Als die Universität von Madison in Wisconsin Mitte der 1960er Jahre einen Fotolaboranten sucht, meldet sich Jerry Berndt für den Job. Dass er keinerlei Kenntnisse auf diesem Gebiet hat verschweigt er. Innerhalb eines Jahres eignet sich der Autodiktat die hohe Schule des Vergrößerns an. Mit Hilfe der Bücher des amerikanischen Fotografen Ansel Adams lernt er fotografische Perfektion auf höchstem Niveau. Eine Fähigkeit, die seine fotografische Arbeit für die nächsten 45 Jahre prägen wird. Als die renommierte Harvard Universität 1967 für einen Feldversuch einen Fotografen sucht, ist Jerry Berndt zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er bewirbt sich und bekommt die Stelle. In Boston will das sozial-psychiatrische Institut der Harvard Universität die soziale und ökonomische Struktur der so genannten Combat Zone untersuchen. Das Rotlichtviertel weist einige Besonderheiten auf: zumeist schwarze Zuhälter schicken junge weiße Frauen auf den Strich. Viele der schwarzen Prostituierten werden von weißen Geschäftsmännern für ihre sexuellen Dienste frequentiert. Der weiße Mittelstandsfreier kann allerdings unbehelligt die Combat Zone betreten, obwohl Überfälle, Rivalitäten und Kämpfe zwischen schwarzen und weißen Gangs das Straßenbild prägen. Das Viertel am Bostoner Hafen ist eine urbane Kampfzone mit vielfältigen Implikationen. Ein Team aus Soziologen und Psychologen macht sich auf den Weg mit Super-8-Kameras und Fotoapparaten, um die Szene zu dokumentieren. Jerry Berndt wird schnell zum Hauptakteur. Zumal der leitende Professor nach einem Jahr aufgibt und sich mit den gesamten Film- und Fotoaufnahmen aus dem Staub macht. Jerry Berndt bleibt dennoch in Boston und dokumentiert drei weitere Jahre lang die Combat Zone. Diese Arbeit ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für sein fotografisches Vorgehen: Die direkte Konfrontation mit Gewalt, Prostitution, sozialer und urbaner Destruktion übersetzt er in Bilder, die jenseits einfacher Stereotypen ein komplexes Bild zeichnen: genau, atmosphärisch dicht, vielgestaltig. Jerry Bernd wechselt je nach situativer Notwendigkeit seine Position. Mal ist er nahezu unsichtbar, dann wieder exponiert er sich überdeutlich und nutzt den Hang zur Selbstdarstellung seiner Protagonisten. Grobkörnige s/w-Bilder aus Bars, Seiteneingängen und Hinterhöfen oder würdevolle Porträts markieren das Spektrum seines Vorgehens.
Combat Zone, 1968
Berndt wird zum umfassenden Chronisten des studentisches Protestes und der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung in den USA. Seit den frühen 1960er Jahren war er politischer Aktivist, organisierte Demonstrationen und illegale Aktionen. Eine Reise nach Kuba im Jahre 1969, während der er zusammen mit Fidel Castro Zuckerrohr schneidet (sic!), brachte ihm eine Verfolgung durch das FBI und ein zeitweiliges Berufsverbot ein. Erst durch einen Job als Zeitungsfotograf bei einer Zeitung aus Detroit ("The Newspaper") konnte er Anfang der 1970er Jahre wieder beruflich Fuß fassen. Durch die journalistische Arbeit in Detroit erweitert sich sein Oeuvre. Er fotografiert den amerikanischen Alltag, unprätentiös und präzise. Er zeigt Misswahlen, Kinderporträts, Einkaufszentren, Diners, Parkplätze, Arbeiter und Autos, Angehörige der Mittelschicht und die Bewohner des schwarzen und des weißen Ghettos.
Detroit, 1971
Detroit, 1970
Jerry Berndt wurde 1943 in Milwaukee geboren. Anders als die meisten seiner Mitstreiter in der Studentenbewegung stammte er nicht aus der Mittelschicht. Als Sohn polnisch-deutscher Einwanderer wuchs er unter schwierigen Bedingungen auf. “Das Lesen habe ich beim Sortieren der Bierflaschen in der Bar meines Vaters gelernt”, berichtete er. Früh verlässt Jerry Berndt sein Elternhaus und geht eigene Wege. Sein Leitbild sind die Beatniks. Intellektuell wird er von den Schriften Paul Goodmans entscheidend beeinflusst. Schul- oder Universitätsabschluss bleiben ihm verwehrt. Wenn die authentische Erfahrung der Straße etwas zählt, dann konnte Jerry Berndt diese für sich in Anspruch nehmen. Als Fotograf hat er die Zeit des aufblühenden Protestes, der Emanzipation und Kreativität, aber auch den allmählichen Niedergang der amerikanischen Gesellschaft, ausgelöst durch die Eskalation des Krieges in Vietnam und den Watergate-Skandal, durch politisches Misstrauen, anhaltende Diskriminierung und wirtschaftliche Krise, umfassend dokumentiert.
Jerry Berndts Oeuvre ist vielgestaltig. Als Fotograf, Filmer und Texter hat er unermüdlich und scharfsinnig die Gesellschaft in ihrer Unbarmherzigkeit und Absurdität kritisiert. Er machte auch Bilder von großer konzeptueller Qualität. Die Serie Nite Works ist dafür ein herausragendes Beispiel. Als Work in Progress 1973 begonnen, zeigt die Serie menschenleere Nachtaufnahmen von Städten und Straßenzügen, die wie Filmsets die ganze Poesie und Beklemmung nächtlicher Isolation zum Ausdruck bringen. Mit seiner Tochter Emma Berndt schuf er über 10 Jahre hinweg einen anrührenden, analytischen Bilderzyklus über die Ausdrucksweisen kindlicher Imagination. Und lotete damit gleichzeitig die Möglichkeiten einer konzeptuell begründeten Bild-Text-Arbeit im Spannungsfeld von Dokument und Inszenierung aus.
Nite Works, 1973
Nite Works, 1973
Jerry Berndt blieb sein Leben lang politisch engagiert und arbeitete erfolgreich als Fotojournalist: San Salvador (1984), Guatemala (1985), Haiti (1986-1991) und später dann die Kriege in Armenien (1993-94) und in Ruanda (2003-2004) markieren seine Risikobereitschaft und seine Fähigkeiten, als Fotograf weltweit zu arbeiten. In Kalifornien arbeitete er seit den 1990er Jahren an dem Werkkomplex The Act of Faith. In Zusammenarbeit mit dem Center for Religion and Civic Culture in Los Angeles dokumentierte er ausdauernd und emphatisch alle praktizierten Glaubensformen in der Metropole. Trotz seiner immensen Produktivität ist das Werk von Jerry Berndt lange weitgehend unbekannt. 2007 präsentiert eine Hamburger Galerie seine Arbeit erstmals in Deutschland. 2008/09 folgt die erste Retrospektive unter dem Titel Insight. Die Ausstellung wird zunächst in Braunschweig, dann bei C/O in Berlin mit großem Erfolg gezeigt. Sogar Nan Goldin gratulierte in diesem Rahmen Jerry Berndt respektvoll zu seiner Arbeit. Das im Steidl Verlag publizierte Buch ist innerhalb eines Jahres ausverkauft. Unter dem Titel Streetwise wird Jerry Berndt schließlich 2010 in den USA gewürdigt. Mit Fotografien von Diane Arbus, Lee Friedlander, Robert Frank oder Garry Winogrand tourte die Ausstellung durch Amerika. Jetzt ist Jerry Berndt überraschend in Paris gestorben. Er wurde 69 Jahre alt.
© Maik Schlüter, 2013
Hrsg. Felix Hoffmann und Maik Schlüter, Steidl 2008
I WANT MORE LIFE FUCKER
Simona Pries
Donnerstag, 15.8. 2013
19.30 Uhr
Einführung: Maik Schlüter
Kulturkreis Springe e. V.
Zur Salzhaube 12
31832 Springe
Installationsnasicht, 2013
Irdische Illusionen - Über die Installation “I want more life fucker” von Simona Pries
von Maik Schlüter
“I want more life fucker”. Die vehemente Forderung nach mehr Leben stammt aus dem Science-Fiction-Klassiker Blade Runner (USA, 1982). Ausgesprochen wird die Forderung von einem so genannten Replikanten, dem als Replik eines echten Menschen lediglich eine begrenzte, vorprogrammierte Lebenszeit zur Verfügung steht. Aber was könnte menschlicher sein als die Forderung nach mehr Leben? Der Replikant beweist, dass er bereits die existenziellen Fragen des Menschseins verinnerlicht hat. Denn als künstliche Intelligenz müsste er der “eigenen” Endlichkeit gleichgültig gegenüberstehen. Die titelgebende und scheinbar eindeutige Forderung erscheint damit widersprüchlich und ungeklärt (...)
Vom Hier und Jetzt
Vom Hier und Jetzt
Mit Texten u. a. von René Zechlin, Cynthia Krell, Christine Gückel,
Ute Stuffer und Maik Schlüter
72 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen
Hrsg. Kunstverein Hannover
Design, Delia Keller, Berlin
ISBN 978-3-934421-24-0
Für zeitgenössische Kunst gibt es kein regionales Reservat. Hier und Jetzt: Wo ist das und wann? Der internationale Transfer und Diskurs ist jeder künstlerischen Arbeit eingeschrieben, die nicht als Kunsthandwerk oder regionales Kulturgut verstanden werden will. Beschränkungen gibt es nicht auf formaler, sondern lediglich auf institutioneller Ebene: Nicht jeder Ort und jede Arbeit wird im großen Format kommentiert. Die Qualität der Kunst bleibt davon unberührt. Zeitgeist, Trends und Strategien, Eigensinn und Widerspruch, Zuspruch und Abhängigkeit bleiben immer bestehen: Egal, ob in New York oder in Hannover Konzepte eingereicht, Kunstwerke realisiert und Präferenzen definiert werden.
So wird regionale Kunstförderung zu einem Panorama aktueller Produktion, die überall stattfinden könnte. Überblicke sind immer divers: das qualitative Versprechen der Kunst löst sich vor allem im Detail ein. Und belegt einmal mehr die Relevanz und Notwendigkeit Hier und Jetzt zu produzieren und auszustellen.
© Maik Schlüter, 2013
art value 11 - 7. Jahrgang 2013
art value – Positionen zum Wert der Kunst ist eine interdisziplinäre Fachzeitschrift zu Fragen der Wertschätzung der Kunst. Experten aus unterschiedlichen Wissensbereichen diskutieren ästhetische, politische, ideologische und ökonomische Kriterien, die zur Bewertung von Kunst herangezogen werden können.
Spiegelungen (Mirror L.A.) von Maik Schlüter
In Schlüter’s essay, the city of Los Angeles is transformed into a lyrical kaleidoscope. The smallest details unexpectedly project a whole, and immediately the entire megacity seems to be compressed into a handful of conceptual opposites. Slogans become bright lights, and, while reading, you can breathe and smell the city’s air and hear its noises, just as if you were you were right in the middle of it: a text that reads like a movie in fast motion. This is an unconventional but surprisingly accurate introduction to Andreas Schulze’s A Los Angeles Story.
Leseprobe - art value 11
Leseprobe
Die Stadt als Display: Los Angeles. Ein urbanes Raster. Spiel- und Stadtplan zugleich. Die Stadt der Kürzel und Chiffren: LAPD, UCLA, MOCA, LACMA, LAX etc. Eine Stadt der Ab- und Aussperrungen. Hier ist die repräsentative Architektur immer eine Abwehrhaltung, grafisch verschönert, begründet durch postmoderne Theorien, aber eben auch Gefängnis, Schutzwall und Grenzzaun. Denn Immobilien sind teuer, und die Logik des städtischen Ausverkaufs fordert die Protagonisten heraus: East L.A., South Central, Echo Park sind die bösen Spiegelbilder von Venice, Santa Monica oder Hollywood. Kein Tag ohne Verbrechen. Kein Tag ohne den leeren blauen Himmel. Kein Tag ohne Pressekonferenz. Kein Tag ohne Bilder.
© Maik Schlüter, 2013
Mehr dazu in art value 11